Von Patientensouveränität zu Algorithmenabhängigkeit? Gefahren der Digitalisierung im Gesundheitswesen.

Von Patientensouveränität zu Algorithmenabhängigkeit? Gefahren der Digitalisierung im Gesundheitswesen.

10. Mai 2021 Seite drucken 7 Minuten Lesezeit (1455 Wörter)

Im Gesundheitswesen der Schweiz besteht, genauso wie auch in anderen Ländern, ein starker Anreiz zu kontinuierlicher Mengenausweitung. Und so werden Jahr für Jahr mehr und angeblich bessere Gesundheitsleistungen und -produkte in Anspruch genommen. Die Gefahr besteht, dass diese Entwicklung durch die Digitalisierung des Gesundheitswesens zusätzlich beschleunigt wird.

Der Anreiz zur Mengenausdehnung hängt damit zusammen, dass es im Gesundheitswesen keine lehrbuchmässig funktionierenden Märkte gibt. Auf einem perfekt funktionierenden Markt existieren viele kleine Anbieter, die in vollständiger Konkurrenz untereinander in einem Preiswettbewerb dasselbe Produkt anbieten. Dabei besitzen alle Marktteilnehmer vollständige Information zu Produkten und eigenen Bedürfnissen. Und selbstverständlich bezahlt der Käufer eines Produkts auch selbst. Es braucht nicht viele Überlegungen, um festzustellen, dass diese Bedingungen auf Märkten für Gesundheitsgüter oder Dienstleistungen nicht erfüllt sind.

Marktdefizite schaffen permanenten Anreiz zur Mengenausweitung

Wer eine Gesundheitsleistung in Anspruch nimmt, bezahlt im Allgemeinen nicht oder nur zu einem kleinen Teil selbst dafür. Für den grössten Teil muss die Allgemeinheit über Krankenkassenprämien und Steuern aufkommen. Doch wenn man nicht selbst bezahlt, ist das Kostenbewusstsein meist nur schwach ausgeprägt. Also wird versucht, dieses über einen Selbstbehalt von 10 Prozent und die Möglichkeit der Wahl von hohen Franchisen bei der Krankenkasse wieder zu fördern. So wählen mittlerweile knapp 20 Prozent der Versicherten die höchste Franchise von 2500 Franken. Doch gleichzeitig nimmt auch der Teil der Menschen immer mehr zu, welche Prämienverbilligungen erhalten, so dass der Effekt insgesamt bescheiden bleibt.
Eine wichtige Abweichung von der Idee eines perfekten Markts stellt auch die ausgeprägte Informations-Asymmetrie zwischen Anbietern und Nachfragern dar. Ärzte und Spitäler, aber auch die Hersteller von Pharmazeutika sind viel besser über ihre Angebote informiert als die Patienten auf der Nachfrageseite. Kombiniert mit dem geringen Kostenbewusstsein der Patienten schafft die Informations- Asymmetrie die wesentliche Grundlage für die permanente Mengenausdehnung. Denn die Nachfrage kann zu einem grossen Teil über das Angebot gesteuert werden. Also werden ständig neue Krankheiten „entdeckt“ oder alte Krankheiten neu dramatisiert (z.B. Masern), „verbesserte“ Behandlungsmethoden und Medikamente entwickelt, neue Präventionsprogramme aus dem Boden gestampft oder neue Apps zur Überwachung des Gesundheitszustands angeboten. Und all dies wird als notwendig dargestellt für mehr Lebensqualität und ein längeres und beschwerdefreies Leben.
Teilweise stimmt das auch, aber eben nur zum Teil. Es geht auch um cleveres Marketing, politische Lobbyarbeit und geschickte „Incentivierung“ von Ärzten, Gesundheitsmanagern und Patienten. Daran hat auch das Internet mit all seinen Vergleichsmöglichkeiten nichts geändert. Ganz im Gegenteil. Mit der grossen Menge an Informationen steigt auch die Desinformation, denn die präsentierten „Fakten“ sind oft vage und widersprüchlich. In dieser Situation ist es relativ leicht, die Patienten durch gezielte persönliche Informationen zu weiterem Konsum von Medikamenten, Behandlungen oder Therapien zu bewegen.
Natürlich steigen die Gesundheitskosten nicht nur aufgrund von Anreizen zur Mengenausweitung. Sie wachsen auch aufgrund der Alterung der Gesellschaft, aufgrund der Bevölkerungszunahme und aufgrund besserer Behandlungen, Produkte und Verfahren. Aber allein damit kann man die ständig steigenden Gesundheitsausgaben nicht erklären. Diesen Anstieg versteht man nur, wenn man auch zur Kenntnis nimmt, dass letztlich alle Anbieter im Gesundheitswesen – egal ob Hersteller pharmazeutischer Produkte, Anbieter von Ausbildungslehrgängen im medizinischen Bereich, Ärzte, Rehabilitationszentren, Apotheker, Therapeuten oder Anbieter von Zusatzversicherungen – umso besser leben, je mehr die Gesundheitskosten ansteigen.

Digitalisierung kann Tendenz zur Mengenausweitung verstärken

Unter den eben geschilderten Bedingungen kann man nicht erwarten, dass sich medizinischer und technischer Fortschritt automatisch zum Wohl der Patienten auswirkt und zu immer effizienteren Behandlungen führt. Das gilt speziell auch für die Digitalisierung. Diese macht ein Gesundheitssystem nicht zwingend besser und auch nicht zwingend effizienter.
Das wird deutlich, wenn wir einige mit der Digitalisierung verbundene Entwicklungen genauer betrachten. Ein Beispiel sind selbstlernende Algorithmen (Machine Learning), mit deren Hilfe künstliche Intelligenz auch im Gesundheitswesen verstärkt Anwendung finden soll. Darin steckt zunächst ein grosses Potential an Verbesserung. Mit Hilfe solcher Algorithmen ist es möglich, bessere und schnelle Diagnosen zu stellen, sofern man gleichzeitig Zugriff auf immer mehr Daten der Patienten hat. Behandlungen können auf diese Weise individuell gestaltet werden. Therapien, Medikamente, aber auch Versicherungen können massgeschneidert den Bedürfnissen einzelner Patienten angepasst werden.
Doch dienen solche Algorithmen tatsächlich immer dem Wohl der Konsumenten? Sie werden auch entwickelt, um damit wirtschaftliche Interessen zu verfolgen. Und diese Interessen verlangen, dass die Nachfrage der Konsumenten im Verlauf der Zeit möglichst wächst. Eine von Algorithmen gesteuerte Nachfrage lässt sich viel leichter beeinflussen, als wenn Menschen selbst die Konsumentscheide treffen. Schnell kommt so auch der Anreiz zur Mengenausweitung ins Spiel. Kunden bzw. Patienten sollen nicht zuletzt zu einem für die Anbieter „richtigen“ Verhalten motiviert werden.

Permanente Gesundheitsüberwachung als lohnendes Ziel?

So beginnen Krankenkassen schon heute damit, Kunden einen Prämienrabatt zu gewähren, welche eine Smart Watch tragen und so die Krankenkasse über ihren Gesundheitszustand auf dem Laufenden halten. Dadurch wird eine permanente Gesundheitsüberwachung möglich. Der im Hintergrund wirkende Algorithmus wird den Smart-Watch-Träger dann bei entsprechendem Über- oder Unterschreiten von Grenzwerten selbständig beim Arzt anmelden oder ihn dazu animieren, sich mehr zu bewegen.
Sobald die Entscheide für Arztbesuche, Untersuchungen oder Therapien nicht mehr vom Konsumenten selbst gefällt werden, gibt es auch ganz neue Möglichkeiten, die Nachfrage zu steuern. So kann man etwa die Grenzwerte so festlegen, dass schon kleine Abweichungen von der Norm beim Blutdruck, Cholesterinspiegel oder beim Blutzuckergehalt zu vorbeugenden Untersuchungen und präventivem Konsum von Medikamenten führen. Oder den Kunden werden Therapien und Fitnessprogramme verordnet, die dann über Versicherungen oder vom Staat durch die Allgemeinheit bezahlt werden. Der Konsum wird so vermehrt zum Selbstläufer, der unabhängig von den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen weiterwächst.

Algorithmengesteuerte Vergleichsportale

Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von intelligenten Algorithmen wird vermutlich die Entwicklung von Vergleichsportalen auf dem Internet spielen. Die Funktion dieser Vergleichsportale besteht heute darin, den Konsumenten zu helfen, etwa die für sie beste Krankenversicherung zu finden. Doch nach wie vor ist das mühsam. Auf einem Vergleichsportal wie comparis.ch kann man zwar relativ leicht herausfinden, welche Krankenkasse die obligatorische Versicherung bei einer gewählten Franchise am günstigsten anbietet. Doch der Kunde möchte eine Versicherung, die nicht nur billig, sondern auch zuverlässig und kundenfreundlich ist. Also schaut er als nächstes bei den Bewertungen und muss dann häufiger feststellen, dass die billigste Variante einen erheblichen Anteil schlechter Beurteilungen hat. Folgerichtig sucht er weiter nach einem etwas teureren, aber besser bewerteten Angebot. Doch wenn er dieses gefunden hat, wird er wahrscheinlich wieder unsicher. Stimmen denn die Bewertungen tatsächlich und sind sie wirklich unabhängig? Also geht er als nächstes zu einem anderen Vergleichsportal und schaut sich die Bewertungen dort an, nur um ernüchtert festzustellen, dass sie nicht übereinstimmen. Deshalb schaut er dann noch bei einem dritten Vergleichsportal und weiss trotz grossem Zeitaufwand immer noch nicht, welches Angebot das beste für ihn ist.
Dieser ganze Prozess lässt sich wesentlich vereinfachen, wenn ein selbstlernender Algorithmus mir diese ganze Arbeit abnimmt. Dieser würde dann alle Angebote durchsuchen und das für mich beste Angebot auswählen und danach auch gleich den Vertrag abschliessen. Welches Angebot das beste für mich ist, „weiss“ der Algorithmus aufgrund der vielen Daten, die er bereits über mich gesammelt hat. Er kann deshalb abschätzen, wie stark ich den Preis im Vergleich zum Service gewichte, und kann so die Optimierungsaufgabe für mich erledigen.
Doch wählt der Algorithmus tatsächlich das für mich beste Angebot? Zweifel daran sind angebracht, Schliesslich möchten Vergleichsportale auch Geld verdienen. Bereits heute verdienen sie durch Provisionen von Versicherungen, wenn ein Kunde über das entsprechende Portal einen neuen Vertrag mit einer Krankenkasse abschliesst. Wir können deshalb erwarten, dass Algorithmen in Zukunft so gestaltet sein werden, dass die Betreiber der Portale ebenfalls von ihnen profitieren. Das ist der Fall, wenn Kunden jedes Jahr mit einer anderen Krankenkasse einen Vertrag abschliessen, so dass dann jeweils eine Provision an den Betreiber fliesst. Wahrscheinlich werden die Vergleichsportale bald auch Allianzen mit bestimmten Krankenkassen eingehen, die dann zu besonders „günstigen“ Konditionen auch noch Zusatzversicherungen anbieten. So lässt sich die Nachfrage vermehrt über Algorithmen beeinflussen und steigern.

Viele offene Fragen

Die Beispiele zeigen auf, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen kein harmloser Prozess ist. Schnell werden aus eigentlich autonomen Kunden bzw. Patienten algorithmenabhängige Bezüger von Gesundheitsdienstleistungen. Natürlich geschieht dies vordergründig zu unserem Wohl, doch wer garantiert das? Müssen Algorithmen in Zukunft zertifiziert werden, um sicherzustellen, dass sie nur zum Wohl des Patienten entscheiden und keine kommerziellen Interessen verfolgen? Und kann man das überhaupt noch überprüfen? Wohl kaum! Bei aller Digitalisierungseuphorie sollten wir das nicht vergessen.
Auf welche Weise sind nun alternative Ansätze wie die in der Klinik Arlesheim praktizierte Anthroposophische Medizin von dieser Entwicklung betroffen? Anbieter im Bereich der Komplementärmedizin müssen aufpassen, dass sie nicht von den gleichen Trends vereinnahmt werden wie die herkömmlichen Gesundheitsversorger. Denn je mehr Fehlanreize in der traditionellen Medizin wirksam sind, umso wichtiger werden Alternativen, bei denen die Patientenautonomie und damit auch der ganze Mensch weiterhin im Zentrum stehen. Nur ein vielfältiges Gesundheitswesen mit komplementären Ansätzen und Philosophien kann den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen in Zukunft gerecht werden.

Mathias Binswanger
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Gastprofessor an Universitäten in Deutschland, China und Vietnam.
mathias.binswanger@fhnw.ch
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Gastprofessor an Universitäten in Deutschland, China und Vietnam.
weitere Angaben zur Fachperson: Autor zahlreicher Bücher und Artikel u.a. in Fachzeitschriften.
Forschungsschwerpunkte: u.a. Makro- und Umweltökonomie,
Zusammenhang zwischen Glück und Einkommen.

 

Autor / Autorin

Marketing und Kommunikation, Klinik Arlesheim AG
Marketing und Kommunikation, Klinik Arlesheim AG
kommunikation@klinik-arlesheim.ch
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